1. Ballade op.23 in g-moll

Die Geschichtenerzählerin

Es dauerte vier Jahre (1831-1835), bis die erste Ballade (op.23) vollendet war - gleichzeitig mit Chopins Ankunft in Paris und seiner Aufnahme in die feine Gesellschaft.

Im Gegensatz zu den meisten anderen Klavierwerken Chopins, für die spontane Stimmungs- und Kontrastwechsel charakteristisch sind, hat die Ballade in g-moll eine deskriptive, fast epische Qualität. Sie gleicht literarischen Balladen wie Faery Queen von Edmund Spenser, einem epischen Werk des 16. Jahrhunderts. Manche halten Chopins Balladen für seine perfektesten und schönsten Kompositionen.

Diese Ballade ist das erste Instrumentalwerk in der Musikgeschichte mit diesem Titel, und in der Tat finden wir eine perfekte Übereinstimmung zwischen Titel und Inhalt, auch wenn jegliche Konkretisierungen des Letztgenannten ausbleiben. Dieses Werk hat nicht nur den Ton, die Stimmung und das Timbre einer Ballade - vor allem derjenien von Mickiewicz, von der Chopin seit seiner frühesten Jugend fasziniert war -, sondern auch eien Inhalt mit deutlicher Entwicklung, wie bei einer in sich geschlossenen Geschichte, die hier ohne jegliche verbale Artikulation nur mit der Musik "erzählt" wird.

Diese Ballade ist ein Versuch Chopins (der ihn schon seit längerem beschäftigte), eine Form zu kreieren, die eine dramatische Entwicklung nachvollzieht und mit unterschiedlichen Handlungssträngen durchsetzt ist; dabei wollte er allerdings nicht die klassische Sonatenform einsetzten, da sie dem romantischen Charakter nicht angemessen gewesen wäre. Zwar kann man in der Ballade durchaus gewisse Übereinstimmungen mit dieser traditionellen Form finden: zwei Themen, ferner Modifikationen und mit Spannung arbeitende Modulationen und schließlich die Wiederkehr beider Themen (wenn auch in veränderter Reihenfolge). Doch gibt es auch wesentliche Unterschiede. Mehr als an der klassischen motivischen Durchführung war Chopin an den Themenmetamorphosen interessiert. Er war bestrebt, das Thema immer wieder in anderer Gestalt zu präsentieren, in Verbindung mit unterschiedlichen emotionellen Inhalten (in der Ballade g-moll erscheinen die beiden Themen dreimal, jedesmal in neuer Ausgestaltung). Auch eine klassische Resprise konnte Chopin hier nicht einbinden, ist sie doch die Rückkehr zum Ausgangspunkt (und zwar in noch einfacherer harmonischen Gestalt); die sich entwickelnde Erzählung verlangte hier etwas völlig anderes: eine "Reexposition" der Themen, die der musikalischen Erzählung eine neue Wendung gibt.

Erstes Thema

Was die Ballade g-moll besonders auszeichnet, ist die ungewöhnliche Schönheit der melodischen Themen. Ihr Reiz liegt liegt nicht nur in ihren weitläufigen Gestalten und ihren mannigfaltigen Verläufen, sondern auch in der gewählten, äußerst eleganten und poetischen harmonischen Anlage. Eine strenge und majestätische Einleitung (Largo), einige Takte lang, eröffnet die Ballade. Sie ist tragisch und verheißt nichts Gutes und erweckt mit ihrer unisono gespielten Passage geradezu den Eindruck, als schlüge ein Barde die Saiten einer Leier an. Hieraus erwächst ein archaisch anmutendes und zugleich leidvoll vorgetragenes Rezitativ, das die Erzählung ankündigt. Das Leid wird noch durch ein Motiv aus drei Klängen unterstrichen (nach der Pause: Takte 6-7), welches auf einem geheimnisvollen, ausgesprochen dissonanten arpeggierten Akkord innehält (einige Verleger versuchten sogar, diesen Akkord nach den ersten Editionen in eine banale Konsonanz umzuwandeln). Es setzt in neuem Tempo ("moderato") und in neuem Sechsvierteltakt (der bei Chopin nur selten vorkommt) eine jener wunderschönen, weitgeschwungenen Belcantolinien ein, wie sie nur großen Melodikern wie Chopin einfallen konnten. Am Schluss der Entwicklung vom ersten Thema (Takte 34-35) wird dieses Motiv noch einmal in Erinnerung gebracht.

Mit seinem deutlich epischen Charakter und der interessanten mäandrisch verlaufenden melodischen Linie verstärkt das erste Thema (Moderato) die Balladenstimmung und belebt sie zugleich: Die Erzählung hat bereits begonnen.

Trotz seine zunächst ruhigen Tempos und der gedämpften Dynamik birgt das Thema, wenn auch nur im Keim, bereits die spätere Unruhe in sich. Nach und nach wird der Hörer in den "epischen" Gang der Erzählung hineingezogen, der sich dann in den darauffolgenden Überleitungen (ab Takt 36) immer wieder verdichtet. Zudem wird durch die Hartnäckigkeit einer Achtelfigur - mit ihrer schönen harmonischen Entwicklung sowie den unaufhörlichen Dissonanzen - eine immer größere Spannung, ja dramatische Aufregung erzeugt, die sich schließlich in virtuosen Figurationen und Passagen entlädt.

Zweites Thema

Nach "agitato", "sempre piú mosso" und wieder "smorzando" ein paar zögernde Quinten und Quarten in der linken Hand, bis die rechte Hand weich und geschickt übernimmt und die nächste herrliche Melodie hinzaubert: Der Horizont hellt sich auf, durch die hohlen Quinten und Quarten wird eine neue Färbung eingeführt, und das zweite Thema (Es-Dur) erscheint, eine weiche und lyrische Melodie über äußerst subtilen, schnell wechselnden Harmonien. Interessant ist dabei die von den traditionellen Vorbildern abweichende Begleitung: Sie besteht aus einzelnen Tönen der linken Hand, die (abgesehen von zwei Takten) nicht etwa die üblichen gebrochenen Akkorde bilden, sondern unterschiedlichen harmonischen Funktionen zugehören, welche man jedoch kaum vollständig zuordnen kann. Durch die harmonische Mannigfaltigkeit und den spärlichen Satz wird der feine und sensible Ausdruck dieses schönen Themas noch verstärkt.

Die intime und warme Stimmung des zweiten Themas erscheint auch in den Arabesken, welche dem ersten Thema entnommen sind und die Exposition beenden.

Rückkehr mit Veränderungen

Nachdem diese sich beruhigt und abgeschwächt haben (diminuendo, rallentando) beginnt ein neuer Akt der Erzählung. Das erste Thema kehrt wieder, doch in welch veränderter Gestalt! Nun in a-moll, mit stur gehämmertem e im Bass, woraus harte, dissonante Harmonien resultieren und somit ein beunruhigend düsterer, sogar etwas drohender Ausdruck entsteht. Statt der zweiten Phrase wiederholt der Komponist mehrmals - jeweils auf höherer Stufe - ein Motiv aus der Melodie, das durch einen mit Dissonanten bereicherten Akkord ergänzt wird. Auf diese Weise steigert er die Spannung, die sich dann mit der Einführung des zweiten - gleichfalls veränderten - Themas (ff) entlädt. Dieses Thema tritt nur in A-Dur auf, in seiner Tonart also diametral zum ursprünglichen Thema (in Es-Dur(, diametral aber auch in seiner Gestalt: Die ursprünglich zarte, lyrische Kantilene mit den einzeln gestreuten Tönen hat sich nin in einen kraftvollen und leidenschaftlichen Gesang verwandelt, der in beiden Händen akkordisch dargeboten wird. Die sich immer wieter erstreckende, mit neuen Motiven und Progressionen ergänzte Melodie scheint geradezu in Ekstase versetzt zu werden, bis sich plötzlich wie durch einen Zauberstab mit einer harmonischen Wendung die Färbung um das ganze Bild verändern: Es erscheinen nun schillernde kleine Figuren in schneller Bewegung, als würden sie in einen wirbelnden Tanz mitgerissen. Durch eine Folge abrupter Modulationen beschleunigt die Musik ihren Atem.

Aus dieser tänzerischen Episode erwächst das zweite Thema ein weiteres Mal (Takt 116), nun jedoch in einer noch anderen Gestalt, aber in der ursprünglichen Tonart.Es-Dur. Die auf den bewegten Achtelnoten der Begleitung gestützte Melodie ist nun voller Energie und Freude, sie scheint sich geradezu vor Glück zu überschlagen. Doch erlischt die heitere Stimmung wieder, sobald das erste Thema zurückkehrt, wieder in g-moll, nun aber in seiner zweiten Version, die geheimnisvoll und von Unruhe erfüllt ist. Die Spannung des Themas nimmt immer weiter zu und führt schließlich zur Explosion, die in eine breit angelegte Coda mündet (Presto con fuco). Diese erschöpft sich nicht etwa in brillanter Virtuosität, sondern präsentiert sich voller Ernst und Dramatik, mit unsteten Figuren und Motiven sowie mit einer reichen Harmonik. Hiermit hat die Ballade ihren Angelpunkt erreicht.

Durch die grimmig herabstürzenden Akkorde und Figuren entsteht eine unheimliche und tragische Atmosphäre, als erfüllte sich nin das Schicksal. Schließlich, inmitten der auf- und abwärts laufenden Tonleitern vernimmt man Fetzen aus der Einleitung. All dies findet in einem wahrhaft teuflischen "Lachen" seinen Abschluss, gestaltet als eine von den beiden extremen Tonlagen ausgedehnte chromatische Gegenbwegung von Oktaven, die jeweils mit Vorschlägen versehen sind.

Auffallend und bezeichnend für den dramatischen Vortragsstil sind die Pausen und leichten Verzögerungen. Manchmal steigert sich der Erzählfluss bis zu einem Aufschrei, gelegentlich fällt er ab zu einem leisen Flüstern.

Im Mittelpunkt des Hauptthemas stehen die Liebesbeteuerungen eines Ritters. Seine zunächst sanften Annäherungsversuche werden immer leidenschaftlicher, bis im zweiten Thema ein zärtlicherer Ton hinzukommt. Das Selbstvertrauen des Ritters wächst, und die Musik gewinnt an Stärke. Beim Versuch des Ritters, sich seines Rivalen zu erwehren, hält die tragische Stimmung erneut Einzug. Wir sehen ihn taumeln, sich wieder aufraffen, um schließlich doch von seinem Widersacher getötet zu werden. Ein Werk, das in unvergleichlicher Weise Erregung aufbaut und wieder löst.

Die Ballade g-moll op.23 wurde im Jahre 1836 gedruckt. Chopin widmet sie einem seiner aristokratischen Freunde, dem Baron Nathaniel Stockhausen, seines Zeichens Botschafter des Königreiches Hannover, der sich zudem als Harfenist hervortat und ein großer Verehrer der Kunst Chopins war.

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Quellenangaben

  1. "CHOPIN - Sein Leben, sein Werk, seine Zeit", Tadeuz A. Zielinski
  2. "Frédéric Chopin - Ein musikalisches Horoskop", Ludwig Kusche