Etüde in E-Dur op.10 Nr.3

Die mit Abstand bekannteste Etüde des 1. Bandes ist diese lyrische-introvierte Nr.3 in E-Dur. Chopin selbst gab zu, nie wieder eine vergleichbare Melodie geschrieben zu haben. Junge PIanisten versuchen sich meist an diesem Stück zuerst. Es sei zwar relativ einfach, sie zu spielen, stellte Herbert Weinstock in seiner bekannten Biografie des Komponisten fest, aber unglaublich schwer, sie gut zu spielen:

"Von einem Meister interpretiert, gehört sie zu den wertvollsten Schöpfungen der Musik. Kein geringrer Pianist als Chopin selbst sollte sie spielen."

Diese Etüde (Lento ma non troppo) datiert Chopin auf den 25. August 1832. Sie ist damit eintgegen der heute gängigen Numerierung sein vorletztes Stück in diesem Genre. Sie hebt sich von den anderen Stücken des Zyklus deutlich ab, zum einen durch das kantilenartige Thema, zum anderen durch einen abwechlungsreichen Verlauf, bei dem die den übrigen Etüden innewohnende Strenge einer konstanten pianistischen und rhythmischen Formel ignoriert wird. Im Grunde handelt es sich hier um ein ergreifendes Gedicht, dessen Phasen und Emotionen sich stetig wandeln. DIe pianistische Aufgabe der Etüde besteht darin, gleichzeitig mit der rechten Hand die kantable Melodie und die Sechzehntelfigurationen darzubieten.

Chopin selbst hielt sie für eine seiner schönsten Melodien und äußerte einmal den Wunsch, dass sie bei seiner Beerdigung gespielt werde (bei der aber dann Mozarts "Requiem" erklang). Aufgrund ihrer technischen Anforderungen könnte man sie als Übung im gesanglichen Stil (cantabile), als Entsprechung zum Belcanto auffassen, wobei die Melodie über der zart wogenden Begleitung sorgfältig ausgeformt und ausgehalten werden soll. Dem Gefühlsinhalt nach handelt es sich um ein Liebeslied, das auf zwei sehnsuchtsvollen Themen aufgebaut ist. Der leidenschaftliche Mittelteil ist sehr kontrastreich und verlangt einiges von der Handspanne des Pianisten. Auf die Beruhigung dieses Teils folgt eine wunderschöne Passage, die zum neuerlichen Einsatz der Eingangsmelodie überleitet.

Die erste Phrase des Themas besteht aus fünf Takten, die zweite aus drei. Auch im weiteren Verlauf des Stückes hält Chopin die klassische Periodenaufteilung nicht ein. Der sehr individuelle Stil und Ausdruck der Etüde hängt aber auch zu einem großen Teil mit der harmonischen Behandlung zusammen. Und wie sehr unterscheidet sich die Harmonisierung dieser Melodie von sämtlicher bis dahin geschriebenen Musik! Auch wenn sich die erste Phrase lediglich auf die Tonika und die Dominate stützt, so enthält sie dennoch eine Reihe verschiedener ungewöhnlich sensibel und vielfältig ausgewählter Zusammenklänge. Jeder Takt ist von einer Vielzahl von Durchgangsdissonanzen durchsetzt, wie dem "Chopinschen Akkord" in den Takten 2 und 5, den Nonakkorden ohne Terz in den Takten 3 und 4, den Quartakkorden im dritten Takt sowie den Quinten-, Quarten- und Septimenfolgen in den Zweiklängen der rechten Hand. Mit dem Einsatz all dieser Klänge und Klangfolgen erzeugt Chopin ein eigenartig zartes und raffiniertes und zugleich auch sinnliches, stimmungsvolles wie expressives Kolorit. Dieses für Chopins Musik so charakteristische Kolorit erscheint hier in besonderes kondensierter Form. Die Art und weise, wie hier harmonischer Klang verstanden und empfunden wird, führt uns deutlich vor Augen, dass Beethovens und Schuberts Werke aus einer anderen Epoche stammen als diese Etüde.

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Quellenangaben

  1. Tadeuz A. Zielinski: "CHOPIN - Sein Leben, sein Werk, seine Zeit"