Chopin Biographie, Werke, Bilder, Portraits, Zitate
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Titanische Experimente: Die Etüden

Die Etüden sind jene beide Zyklen op.25 und op.10, in denen Chopin seine reife Meisterschaft beweist. Sie sind Franz Liszt bzw. dessen Freundin Marie d'Agoult gewidmet. Liszt, der damals schon als der größte Pianist seiner Zeit galt, spielte diese Werke mit einer Brillianz, die selbst dem jungen Chopin verwehrt war. Von Liszt sagte Chopin einmal:

„Ich möchte ihm die Art stehlen, wie er meine eigenen Etüden interpretiert.“

Dabei bediente sich der Komponist eine musikalischen Gattung, deren reiches Repertoire für die Unterrichtspraxis gedacht war und auf die Ausbildung spezifischer pianistischer Fertigkeiten zielte. Eine Tradition auf den Spuren Hummels, Cramers, Czernys und vieler anderer, die auch bei ihm erkennbar ist.

Für jeden, der es wagt, sich mit den Etüden zu beschäftigen, stellen die beiden Etüdenbände von Chopin eine unvergleichliche Herausforderung dar. Es heißt, dass ein Pianist, der diese Etüden spielen kann, alles spielen kann, denn mit diesen Werken wollte der Komponist die äußersten Grenzen des auf dem Klavier technisch Machbaren erkunden, ohne dabei das ihm eigene, einzigartige Feingefühl für Poesie auszugeben.

Am 20. Oktober 1829 schrieb Frédéric Chopin im Alter von 20 Jahren aus Warschau an seinen Freund Titus Wojciechowski: „Ich habe eine Studie auf meine Art komponiert“; und am 14. November desselben Jahres: „Ich habe einige Etüden geschrieben, wenn du da wärest, so würde ich sie gut spielen.“ So kündete der große polnische Komponist ganz einfach, sozusagen ganz ohne Kanonendonner und Glockengeläute ein Ereignis an, das für die klavierspielende Welt von größtem Interesse und höchster Bedeutung war.

Unterschiedliche Ausgaben & Auffassungen

Es gibt viele Ausgaben von Chopins Etüden, doch wenn wir sie prüfen, findet man nicht mehr als ein Dutzend, das des Studiums und der Betrachtung wert scheint. Karasowksi gibt 1846 als das Datum der ersten vollständigen Ausgabe von Chopins Werken an, die bei Gebethner & Wolff in Warschau erschienen waren. Dann folgten nach Niecks die Ausgaben bei Tellefsen, Klindworth, Bote & Bock, Scholtz, Peters, Breitkopf & Härtel, Mikuli, Schuberth, Kahnt, Steingraber und Schlesinger, an dessen Ausgabe der große Pädagoge Theodor Kullak mitwirkte. Xaver Scharwenka hat die Ausgabe von Klindworth für den Londoner Verlag Augener & Comp bearbeitet. Mikuli kritisierte die Tellefsen-Ausgabe, und doch waren beide Männer Schüler von Chopin. Das ist eine bezeichnende Tatsache, die zeigt, wie wenig man sich auf die großen Worte der Tradition verlassen kann. Mikuli hat ja doch die Unterstützung eines halben Dutzend von Chopins „Lieblingsschülern“, und Ferdinand Hiller half ihm bei seiner Ausgabe. Hermann Scholtz, der die Werke bei Peters herausgab, begründete seine Folgerungen auf sorgfältige Prüfung von Originalausgaben der französischen, deutschen und englischen Verleger. Außerdem hat er Georges Mathias, einen bedeutenden Chopin-Schüler, konsultiert. Wenn Fontana, Wolff, Gutmann, Mikuli und Tellefsen, die doch Chopins Manuskripte unter der Oberaufsicht des Komponisten aus dem Original kopierten, nicht einig werden können, auf welcher Grundlage sind dann die modernen kritischen Ausgaben aufgebaut?

Die ersten französischen, deutschen und polnischen Ausgaben sind fehlerhaft, ja unbrauchbar, weil sich darin Druckfehler und Irrtümer aller Art vorfinden. Jede nachfolgende Ausgabe hat mit den Fehlern aufgeräumt, aber nur in Karl Klindworth fand Chopin einen würdigen, wenn auch nicht fehlerfreien Herausgeber. Seine Ausgabe ist ein geniales Werk und wir von Bülow „die einzige Musterausgabe“ genannt. In manchen Abschnitten haben ihn vielleicht Hans von Bülow, Kullak und Dr. Hugo Riedmann übertroffen, doch als Ganzes ist die Klindworth-Ausgabe durch die Genauigkeit, die Lehrmethode, die Fülle von neuen Fingersätzen und die künstlerische Gabe der Phrasierung bewundernswert. Sie erschien in Moskau im Jahre 1873, und wurde 1876 abgeschlossen.

Man muss nicht vergessen, dass die Studien wohl den ganzen Umfang von Chopins Genie darlegen, doch die Hauptsache bleibt bei ihnen, wie sie gespielt werden. Die Poesie, die Leidenschaft der Balladen und Scherzi schlingen sich durch diese technischen Probleme gleich einem flammenden Webfaden. Mit dem modernen Heißhunger für Äußerlichkeiten und dem Interesse für innere Analyse haben Mikuli, Reinecke, Mertke und Schlotz wenig Sympathien. In ihrer verschiedenen Art geben uns die Ausgaben von Kullak, Bülow, Riemann und Klindworth mit ihrer musikalischen Individualität wie mit ihrer präzisen Schulbildung einen Schlüssel zu dem Werk. Klindworth ist der Künstlerischste und Geistvollste,Bülow der größte Pädagoge, Kullak der Poetischte und Riemann der Gelehrteste. Die Chopin-Etüden sind Gedichte, die des Parnasses würdig sind, und doch dienen sie in der Pädagogik dem nützlichsten Zweck. Es sollten hier beide Anschauungsarten, die geistige und die materielle, studiert werden. Mit vier Wegweisern, wie die Genannten, kann sich der Schüler nicht verirren.

Wirkung auf andere Musiker

Das französische Wort " étude" bedeutet "Übungsstück" oder eben "Etüde" - und jede dieser Chopin- Etüden zielt auf eine bestimmte technische Fertigkeit ab, deren Beherrschung einer Pianistin oder einem Pianisten beim Spielen anderer Werke nur zugute kommen kann. Und doch sind diese Stücke viel mehr als bloße Fingerübungen, da ihre gigantischen physischen Anforderungen noch nichts sind gegen ihre musikalischen. Sogar Arthur Rubinstein, der in der ganzen Welt ein dreiviertel Jahrhundert lang Werke von Chopin spielte, hatte vor den Etüden großen Respekt und nach eigenem Bekunden sogar „eine Todesangst.

„Ihnen gerecht zu werden ist eine höchst schwierige Aufgabe, die anzugehen ich noch nicht den Mut hatte“,

schrieb er 1962 an einen Bewunderer.Rubinsteins Respekt war wohl begründet. Die Etüden werden zu Recht als „Himalaja“ der Klavierliteratur betrachtet: großartig, aber gefährlich. Der Musikwissenschaftler Sir Donald Francis Tovey stellte fest:

Kein anderer Komponist hat so elegant die immens schwierige Aufgabe gemeistert, Werke zu schreiben, die einerseits jeweils verschiedene Extrembereiche des modernen Pianofortes systematisieren und darstellen, andererseits aber immer noch unmittelbar wirkende Musik von hohem Niveau erklingen zu lassen.“

Moscheles schrieb einmal in sein Tagebuch:

Ich benütze gern einige freie Arbeitsstunden, um mich mit Chopins Etüden und seinen anderen Kompositionen zu befreunden, finde auch viel Reiz in ihrer Originalität und der nationalen Färbung ihrer Motive.“

1837, als Chopins zweiter Etüdenband op.25 veröffentlicht wurde, war der Komponist bereits eine gefeierte Größe und konnte eine Reihe von Meisterwerken vorweisen. Daher ist es nur natürlich, dass seine neuen Etüden eine nicht so gewaltige Reaktion auslösten wie der erste Band. Gleichwohl ist die Musik mindestens ebenso inspiriert, und die Anforderungen sind nicht weniger hoch.

Chopins Freund und Kollege Schumann sah im Zyklus Opus 25 „wahrhafte Dichtergebilde, im einzelnen nicht ohne kleine Flecken, im ganzen immerhin mächtig und ergreifend.“

Chopin komponierte biographische Seelenzustände als absolute Musik – ohne erklärende Untertitel, ohne literarisches Beiwerk, was trotz aller Spekulation dem Werk seine Intimität belässt. Musik soll als Musik akzeptiert werden und nicht zu einem Medium der Psychoanalyse umfunktioniert werden. Auch wenn dieser Begriff erst zum Ende des Jahrhunderts auf kam, umschreibt er doch ein romantisches Phänomen: den Drang, Musik zu verbalisieren, um auf diesen Umweg die Psyche zu durchleuchten, der Seele auf den Grund zu gehen. Insofern war Chopin, der Romantiker, durchaus antiromantisch geprägt.

Übersicht zu den Werkanalysen der Etüden

Quellenangaben

  • "Chopin, der Mensch, der Künstler", James Huneker
  • Inlay-Text der CD "Murray Perahia - Chopin - Études", Tim Page

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